Ab dem 1. Juli müssen Sterbewillige in den städtischen Alterszentren Sterbehilfe in Anspruch nehmen können. Bild: Exit
08.12.2023 00:00
Selbstbestimmung am Lebensende – auch in Pflegeeinrichtungen
Breit abgestützter Vorstoss will öffentliche Altersheime und Spitäler verpflichten, bei sich Sterbehilfe zuzulassen
Mit einer Parlamentarischen Initiative wollten Vertreterinnen und Vertreter aller Grossratsfraktionen (bis auf EDU) das Gesundheitsgesetz ergänzen. Personen, die in öffentlichen Alters- und Pflegeheimen oder Spitälern leben, sollen dort auch Sterbehilfe in Anspruch nehmen dürfen.
Thurgau Wir werden immer älter. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Diese demografische Entwicklung führt dazu, dass immer mehr betagte und hochbetagte Menschen ihre letzten Jahre in einer Pflegeeinrichtung, einem Spital oder einer stationären Einrichtung verbringen. Doch nicht immer entspricht dort die Lebensqualität dem, was man persönlich als erträglich erachtet. So wächst das Bedürfnis, über sein «Ende» selbst zu bestimmen. Also freiwillig aus dem Leben zu scheiden.
Bedarf hat sich versechsfacht
Das lässt schon anhand von Statistiken belegen: Die Zahl der in der Schweiz durchgeführten ärztlich unterstützten Suizide von über 1'251 im 2020 ist gegenüber den rund 76'000 Sterbefällen im 2020 eher gering. Andererseits haben sich die assistierten Suizide zwischen 2003 und 2020 versechsfacht. Die Zahl der Vereinsmitglieder der grössten Schweizer Sterbehilfe-Organisation, Exit, ist auf mittlerweile über 160'000 Mitglieder angewachsen.
Gesetzt der Fall, ein Mensch, der in einer solchen Einrichtung lebt, möchte seinem Leben ein Ende setzen. Das Einfachste wäre begleiteter Suizid vor Ort, in den Räumen, welche die Person momentan ihr zu Hause nennt. Dann würden Fachpersonen einer Firma wie beispielsweise Exit kommen und einen würdigen Tod ermöglichen. Doch im Thurgau ist dies, anders als zum Beispiel in den Kantonen Neuenburg, Wallis und Zürich, nicht festgelegt. Im Thurgau kann jede Institution selbst entscheiden, ob sie den Freitod erlaubt oder nicht. Infolge eines Neins der Institution verlangt das von vielen Menschen, dass sie ihr letztes Aufenthaltsumfeld verlassen müssen, um ihr Menschenrecht auf Selbstbestimmung am Lebensende auszuüben.
Christliche Parteien halten sich zurück
Nun fordern insgesamt 7 Erstunterzeichnende mit einer Parlamentarischen Initiative, dass dieser Zustand per Gesetzesergänzung verbessert wird. Es sind Mitglieder fast aller Parteien darunter. Von der Fraktion Mitte/EVP ist ein Mitglied dabei, allein die EDU hat den Vorstoss nicht mitinitiiert. «Es geht um die Würde und den Respekt vor den persönlichen Wünschen eines Menschen», erklärt SP-Kantonsrätin Barbara Dätwyler, warum sie den Vorstoss mitlancierte. «Am Ende geht es um die Sicherung der Menschenrechte. Darum das Pflegeeinrichtungen Menschen auch im letzten Willen unterstützen und nicht behindern.»
Dass dieses Gesetzesänderung möglich ist, bestätige ein Bundesgerichtsurteil. Gemäss Bundesgericht gehe die persönliche Freiheit von Aufenthaltern einer Pflegeeinrichtung der Gewissens- oder Religionsfreiheit des lnstitutionsträgers vor. Zudem habe das Bundesgericht bereits 2006 bestätigt, dass das Recht eines Menschen, der in der Lage ist, seinen Willen frei zu bilden und danach zu handeln, auch die Entscheidungsfreiheit über Art und Zeit punkt des eigenen Lebensendes umfasst. Gemäss Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist dieses Menschenrecht 2011 bestätigt worden. 66 Mitglieder des Grossen Rates haben den Vorstoss unterzeichnet, also mehr als die Hälfte des Parlaments.
Von Stefan Böker
Das fordert der Vorstoss
Der Grosse Rat wird beauftragt, das Gesetz über das Gesundheitswesen vom 3. Dezember 2014 in Kapitel 5, § 36a, wie folgt zu ergänzen: Personen, die in Einrichtungen gemäss § 24 Abs.1 Ziff. 1 und Ziff. 2 (unter anderem Spitäler, Alters- und Pflegeeinrichtungen) wohnen oder sich aufhalten, können in deren Räumlichkeiten auf eigene Kosten Sterbehilfe in Anspruch nehmen, sofern der Betrieb dieser Einrichtungen mit öffentlichen Mitteln unterstützt wird.
Das sagen Heime in der Region
Es ist ohne Zweifel ein heikles Thema. Die «Nachrichten» haben bei verschiedenen Pflegeeinrichtungen angeklopft. Die, welche Sterbehilfe bereits erlauben, waren auskunftsfreudig. Heime, die Sterbehilfe verbieten, egal ob öffentlich oder privat, wollten sich trotz mehrfachem Nachhaken nicht zum Thema äussern, reagierten erst gar nicht oder verschanzten sich hinter dem Verband Curaviva. Dort nachgefragt, hier es: «Besten Dank für Ihre Anfrage und dass Sie uns bei dieser brisanten Thematik miteinbeziehen.» Bezüglich einer Stellungnahme werde man sich in Kürze melden. Bis Redaktionsschluss kam vom Verband jedoch kein Statement zum aktuellen Vorstoss.
Fakt ist jedenfalls, dass Curaviva online festhält: Organisierte Sterbehilfe sei in der Gesellschaft und auch in Pflegeheimen kein Tabu mehr. Der Verband führt eine Liste, aus der hervorgeht, welche Institutionen assistierten Suizid in ihren Räumlichkeiten erlauben. Welche davon privat oder welche öffentlich sind, ist nicht ersichtlich. In der Liste von Curaviva sind insgesamt 46 Institutionen verzeichnet, die Sterbehilfsorganisationen Zugang ermöglichen. Exakt die Hälfte erlaubt dies, 22 Institutionen verbieten dies. Von einem Wohn- und Pflegezentrum in Wängi fehlen die Angaben.
Erlaubt ist Sterbehilfe beispielsweise im Alterszentrum Park in Frauenfeld. «Unsere Bewohnerinnen und Bewohner sind selbstbestimmt, auch in dieser Frage», schreibt Zentrumsleiter Michael Tobler. Marco Styner, Geschäftsführer der Genossenschaft Alterszentrum Kreuzlingen, sagt: «Grundsätzlich vertreten wir als GAZK die Meinung, dass die Häuser selbst entscheiden können sollten, wie sie das handhaben möchten. Solange dies im Voraus transparent gemacht wird, können die Bewohnenden dann entscheiden, ob diese Haltung für sie stimmig ist und sie so in dieses Pflegeheim eintreten möchten.» Styner weist daraufhin, dass es im AZK ein Regelwerk für solche Fälle gibt.
Das sind einige der Regeln, wie sie auch in anderen Institutionen gelten: Erlaubt ist der begleitete Suizid nur Personen, die bereits 6 Monate im Heim wohnen und kein anderes zu Hause mehr haben. Auch müssen sie urteilsfähig sein und Behandlungsmöglichkeiten abgeklärt haben. Die Erkrankung des Patienten muss die Annahme rechtfertigen, dass das Lebensende nahe ist. Persönliche, mehrmalige Kontakte und intensive Gespräche sind unabdingbar. Sämtlichen Mitarbeitenden ist es untersagt, am assistierten Suizid mitzuwirken.